Eine Nacht im August 2024. Kurz vor ein Uhr schrecke ich in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw aus dem Schlaf. Die Straßenbeleuchtung ist zum Schutz der Stadt ausgeschaltet, nur vereinzelt ist in den Wohnblöcken der Straße vor meinem Hotel schwaches Licht aus den Wohnungen zu sehen. In der Ferne hört man das Geräusch von Explosionen. Die ukrainische Landesverteidigung wehrt einen Angriff durch russische Raketen und Drohnen ab. Das dumpfe Dröhnen lässt die Glasscheiben der Fenster erzittern und löst die Alarmanlagen der geparkten Autos aus. Für mich, als Gast in diesem vom Krieg gebeutelten Land, ist es nur eine Momentaufnahme. Für die Bevölkerung der Stadt Kyjiw gehören solche Momente zum traurigen Alltag. Auf YouTube habe ich eine Dokumentation über meine Reise veröffentlicht, diese kann hier angesehen werden.
Mehr als 2.000 Kilometer bis Lubny
Meine dritte Reise in die Ukraine seit dem russischen Angriff auf das Land begann in unserem PDUM-Depot in Griesheim. Hier organisiert der Verein seit mehr als zwei Jahren humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine. Zum Transport steuerte auch die Initiative „Pfungstadt hilft“ in der Ukraine benötigte Dinge bei. Unser Ziel war Lubny im östlichen Oblast Poltawa, etwa 200 Kilometer von der Hauptstadt Kyjiw entfernt. Die knapp 48.000 Einwohner zählende Stadt liegt idyllisch am Fluss Sula. Das Stadtbild prägen Frauen, Kinder und ältere Männer. Junge Männer sieht man auf den Straßen meistens nur in Militäruniformen. Die regionale Hauptstadt Poltawa, nochmals etwa 170 Kilometer von Lubny entfernt, ist regelmäßig Ziel von Luftangriffen durch die Russische Föderation.
Kein Geld für Investitionen
Nach einer Anreise von mehr als 2.200 Kilometern erreichten wir unser Ziel am örtlichen Berufslyzeum in Lubny. Dort entluden wir unsere Hilfsgüter. Die Bevölkerung freute sich über eine große Menge an haltbaren Lebensmitteln, Sanitätsartikeln und Verbandsmaterialen für den städtischen Sanitätsdienst, Winterkleidung, sowie viele weitere dringend benötigte Dinge. Der Direktor der Berufsschule zeigte uns den Zustand des Gebäudes. Seiner Meinung nach wäre eine Modernisierung der Ausbildungsräume im IT-Bereich dringend nötig, doch dem ukrainischen Staat fehlen dafür die finanziellen Mittel.
Unsere Führung wurde durch einen Luftalarm unterbrochen. Meinem Begleiter und mir fiel auf, wie automatisiert die Menschen vor Ort auf einen solchen Alarm reagieren: Gespräche werden kurz unterbrochen. Dann ein kurzer Blick in die staatliche Warnapp auf dem Handy, welche Art von Bedrohung gemeldet wurde, danach wird das Gespräch fortgesetzt. Der Direktor bemerkte unsere Verwunderung und fragte uns, ob dies unser erster Luftalarm wäre. Ein weiteres Zeichen, wie sehr sich die Menschen im Land an diesen traurigen Zustand gewöhnt haben. Die Ukrainer nehmen den Luftalarm selbstverständlich ernst. Aber bei den häufigen Alarmmeldungen wäre ein geregelter Alltag nicht mehr möglich, wenn man jedes Mal einen Schutzraum aufsuchen würde.
Besuch beim Bürgermeister
Der nächste Tag war für mich mit vielen Terminen belegt. Eine Besichtigung des örtlichen Krankenhauses machte die Notlage der Menschen nochmals drastisch deutlich. Das Dach ist undicht, Regenwasser beschädigt die Innenmauern massiv. Auch fehlt es an wichtigen medizinischen Ausrüstungsgegenständen wie einem Computertomographen oder Operationsbesteck. Die örtliche Turnhalle, die von Schülerinnen und Schülern der Schulen in Lubny genutzt wird, benötigt eine rasche Renovierung des Hallenbodens. Momentan findet der Sportunterricht auf einem brüchigen, rauen Betonboden statt.
Bei einem Besuch des Bürgermeisters von Pyrjatyn, Andrii Simonov, erfuhr ich von den Nöten der knapp 15.000 Einwohner. Dieses Treffen hatte die stellvertretende PDUM-Vorsitzende, Nadiia Kostina, von Deutschland aus organisiert. Ziel war es, im direkten Gespräch mit dem Bürgermeister die aktuellen Hilfslieferungen zu optimieren. Wir erfuhren, dass der städtische Arzt für die Versorgung der Patienten im Umland ein Fahrzeug benötigt und die Einrichtung der Klinik überaltert ist.
Die Auswirkungen von Tschernobyl
Was nicht vergessen werden darf: Die Ukraine hat seit Jahrzehnten mit den Folgen der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl zu kämpfen. Auch aus der Stadt Lubny und der gesamten Oblast Poltawa kamen 1986 hunderte von sogenannten Liquidatoren in das verseuchte Gebiet nahe Kyjiw, um die Folgen der Reaktorkatastrophe zu bekämpfen. Diese mutigen Helden leiden bis zu ihrem Lebensende an den gesundheitlichen Folgen ihres Einsatzes. Die Krebsrate in der Ukraine ist bis heute extrem hoch, und auch andere chronische Erkrankungen als Folge einer Verstrahlung müssen kostenintensiv behandelt werden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion stoppten die Zahlungen, so dass die Ukraine auch bei der Versorgung dieser Veteranen auf finanzielle Hilfen aus dem Ausland angewiesen ist.
Am Stadtrand von Lubny liegt eine auf den ersten Blick unscheinbare längere Allee, die von kleinen Birken gesäumt ist. Diese Allee haben die aus Lubny stammenden Liquidatoren nach ihrer Rückkehr aus der nuklearen Sicherheitszone in Tschernobyl in Gedenken an Ihren Einsatz selbst angelegt. Jeder Baum steht für einen Liquidator und sein Schicksal. An vielen Bäumen waren bei meinem Besuch bunte Bänder und Plastikblumen sichtbar. Unser Gastgeber Oleksander erklärte mir, dass Angehörige nach dem Tod des jeweiligen Verwandten diese Objekte zum Gedenken an seinem Baum befestigen. Mir fiel auf, dass nur wenige Bäume ohne Trauerschmuck verblieben sind.
Sehnsucht nach Normalität
Mitten im Zentrum von Lubny dominiert eine massive Ruine das Stadtbild. Es handelt sich um den ehemaligen örtlichen Kulturpalast, der dort in den 1970er Jahren durch das kommunistische Regime des Landes errichtet wurde. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 fehlte der Stadt das Geld, um das Relikt aus der Sowjetzeit in Stand zu halten. Aber auch den Abriss kann sich die Stadt nicht leisten. Am Nachmittag ertönte wieder die Sirene im Stadtzentrum von Lubny. Die ukrainische Landesverteidigung rief für die gesamte Oblast Poltawa die Warnung vor Luftangriffen aus. Kurz darauf erfolgte die Meldung, dass über der Gebietshauptstadt Poltawa mehrere feindliche Luftobjekte abgewehrt wurden. Den Alarm warteten mein Begleiter Oleksander und ich in seinem Auto ab. Wieder erstaunte mich, wie klaglos die Menschen diesen Umstand hinnehmen. Der schreckliche Krieg ist für sie Alltag geworden, ein Luftalarm ist fester Bestandteil des örtlichen Tagesablaufes. Aber Abseits dieser Schrecken haben sich Menschen ein Stück Normalität bewahrt.
Unser örtlicher Fahrer Yuri zeigte mir nach der Aufhebung des Luftalarms voller Stolz seine private Bienenzucht am Rande der Stadt. In der Sonne des späten Sommernachmittags war das friedliche Summen der Bienen für mich fast schon surreal. Als Dank für unsere Hilfeleistung schenkte Yuri mir selbstgemachten Honig für unseren Verein in Deutschland. Am nächsten Morgen verließen wir Lubny in Richtung Westukraine. Über die Autobahn E40 führte unser Weg 750 Kilometer zurück Richtung Liviv. Zehn Stunden später erreichten wir die Großstadt mit ihren rund 700.000 Einwohnern. Die Stadt begrüßte uns in nahezu kompletter Dunkelheit. Dafür gab es zwei Gründe: erstens die Knappheit an Elektrizität, da die Luftangriffe der russischen Föderation auch immer wieder Anlagen der zivilen Infrastruktur, wie z.B. Umspannwerke treffen; zweitens der Schutz der Zivilbevölkerung. Wie im Zweiten Weltkrieg werden Großstädte in der Ukraine verdunkelt, damit es für feindliche Drohnen schwieriger wird, Ziele zu treffen.
Landesweiter Sicherheitsnotstand
Auch in dieser Nacht wurde der militärische Konflikt für mich wieder spürbar. In meiner Unterkunft, auf dem Gelände eines orthodoxen Priesterseminars am Stadtrand, hörte ich, neben dem Wind in den Bäumen und dem Gesang der Zikaden, in der Ferne das Heulen der Luftschutzsirenen. Unter diese Geräuschkulisse legte sich das kreischende Warnsignal auf meinem Handy, welches mich über eine ukrainische App aufforderte, sofort Schutz zu suchen. Es war zwei Uhr am Morgen, und Russland reagierte massiv mit Luftangriffen auf die wenige Tage zuvor gestartete ukrainische Offensive in der russischen Oblast Kursk. In der gesamten Ukraine wurde in dieser Nacht der nationale Luftsicherheitsnotstand ausgerufen. Unsere Unterkunft verfügte über keinen geeigneten Luftschutzraum. Ich legte mich wieder ins Bett in der Hoffnung, dass die russischen Streitkräfte kein orthodoxes Kloster angreifen würden. Auch ich war mittlerweile von den häufigen Alarmen erschöpft.
Kooperationsgespräche in Jaworiw
Nach einer kurzen Nacht – die ukrainische Warnapp riss mich immer wieder aus dem Schlaf – fuhren wir weiter in die Kleinstadt Jaworiw, etwa 60 Kilometer von Liviv entfernt. Vor Ort trafen wir unser PDUM-Mitglied Zoryana, die nach der Flucht zu Beginn des Krieges kürzlich wieder in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Sie hatte für uns ein Treffen mit dem stellvertretenden Bürgermeister von Jaworiw, Vitaly Denega, sowie der zuständigen Abteilungsleiterin für internationale Kooperationen, Mariia Dudych, arrangiert. In einem etwa einstündigen Gespräch wurde über zukünftige Kooperationsmöglichkeiten sowie über den Aufbau einer konstanten Transportroute für Hilfsgüter in die Stadt gesprochen. Bei einer Stadtführung präsentierte man uns stolz das sorgsam gepflegte Heimatmuseum. Abschließend luden unsere Gastgeber uns zum Mittagessen ein. Gastfreundschaft wird in der Ukraine großgeschrieben. Mein Fazit: Auch diese erneute Reise führte mir vor Augen, wie dringend die Ukraine auch weiterhin unsere Unterstützung benötigt. Jede Hilfe ist dort absolut willkommen und wird sehr dankbar angenommen.
Schock nach der Rückkehr
Wenige Tage nach meiner Rückkehr aus der Ukraine erreichen uns in Deutschland schreckliche Nachrichten. Am späten Nachmittag des 14. August trifft eine russische ballistische Rakete das Zentrum von Lubny. Es gibt viele Tote und Verletzte. Einmal mehr spüren wir, wie gefährlich der Alltag der Menschen in dem Kriegsland Tag für Tag ist.